Sind die Neuoffenbarungsfreunde eine Sekte?

Sekte, verstanden als secare (lat. für abtrennen), bezeichnete zunächst einmal wertneutral die Abtrennung oder Abspaltung einer religiösen Gruppe von einer vorherigen Gesamtgruppe. Abgesehen von dem Grundproblem, wer sich überhaupt abspaltet und wer beim "Ursprünglichen" bleibt, ist in diesem Sinne auch die evangelische Kirche eine Sekte, die sich von der katholischen Kirche abspaltete und das Christentum insgesamt eine Sekte, die sich vom Judentum abspaltete. Sekte, verstanden als sequi (lat. für folgen), bezeichnete diejenigen, die der Philosophie, Lehre oder Offenbarung einer Person folgten. In diesem Sinne wäre praktisch jede Religion eine Sekte.

Doch der Begriff wird längst nicht mehr wertneutral verwendet. Während Theologen, Politiker und Juristen ihn aus diesem Grund oft meiden und lieber von Sondergemeinschaften oder Kulten reden (vgl. auch Empfehlung der Enquete-Komission), erfreut sich der Begriff in der medialen Öffentlichkeit großer Beliebtheit. Hier wird er durchaus diffamierend gebraucht um meist kleinere oder unbekanntere religiöse Gruppen als verdächtig zu kennzeichnen.

Beide Verwendungen des Begriffs sind für die ernsthafte Auseinandersetzung mit einer Glaubenslehre und ihren Anhängern wertlos, da wir entweder fast alle einer Sekte angehören (auch Atheisten folgen mitunter der Lehre eines Philosophen, z.B. Feuerbach), oder "Sekte" stets "die anderen" sind, die einem suspekt erscheinen.

Statt also zu entscheiden, was eine Sekte ist und was nicht, ist es hilfreicher, eine religiöse Strömung auf konkrete Merkmale hin zu untersuchen, die es erlauben, sich ein differenzierteres Bild zu machen:


  1. Die Toleranz von Neuoffenbarungsfreunden gegenüber anderen religiösen Gruppen ist im Allgemeinen sehr hoch. Nicht nur praktisch, sondern auch theologisch werden viele Wege zum Heil anerkannt, die aus ihrer Sicht letztlich alle auf das Gleiche hinauslaufen und nur noch nicht den Erkenntnisstand der Neuoffenbarung erreicht haben. Eine ewige Verdammnis (im Sinne einer ewigen Strafe in der Hölle) gibt es genauso wenig wie aggressive Mission in anderen Kulturkreisen oder an der Haustüre.

  2. Jakob Lorber, der Zeit seines Lebens zur katholischen Kirche gehörte, gründete keine Kircheninstitution und rief auch nicht zum Verlassen bestehender Glaubensgemeinschaften auf. Im Gegenteil. Aus diesem Grund sind heute auch die meisten Neuoffenbarungsfreunde nicht in einer Neuoffenbarungsgemeinde versammelt. Viele sind aktive Mitglieder ihrer jeweiligen Ortskirche.

  3. Viele Neuoffenbarungsfreunde empfangen und verbreiten in der Tradition Jakob Lorbers auch heute noch eigene Offenbarungen. Und auch wenn diese Offenbarungen im Kreise der Neuoffenbarungsfreunde Anhänger finden und von ihnen als von Gott angenommen werden, genießen die Schreiber selbst nicht automatisch und erst recht nicht außerhalb ihrer Offenbarungstätigkeit den Status eines Gurus oder Führers. Besondere finanzielle Vorteile ergeben sich normalerweise auch nicht durch die Schreibtätigkeit. Jakob Lorber selbst lebte bescheiden und starb nahezu mittellos.

  4. Dass im Zusammenhang mit der Neuoffenbarung an Büchern, Freizeiten oder Sonnenheilmitteln Geld verdient wird, ist nicht spezifisch für die Neuoffenbarung sondern betrifft so gut wie jede Religion. Im Interesse der Verbreitung der Neuoffenbarung wird stattdessen oft Material auf Spendenbasis oder durch unentgeldliche Arbeit billiger abgegeben, was in religiösen Gruppen ebenfalls weit verbreitet ist.


Neuoffenbarungsfreunde, die sich nicht zu neuen Gemeinden oder Kirchen zusammenschließen, bilden im Allgemeinen also keine Strukturen, die dem Klischee der "Sekte" entsprechen und sollten deshalb auch nicht pauschal als solche bezeichnet werden.


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