Sola Scriptura?
Von Anhängern der Neuoffenbarung wird immer wieder,
zum Teil auch zu Recht, vorgeworfen, dass manche
Christen grundsätzlich nur die Bibel als Quelle göttlicher
Offenbarung zulassen. Die kritische Auseinandersetzung
in diesem Buch betrifft deshalb eben nicht die bloße
Existenz der Neuoffenbarung, sondern untersucht
konkret deren Inhalt. Wo liegt nun aber, so könnte man
weiter fragen, der grundsätzliche Unterschied zwischen
Bibel und Neuoffenbarung? Könnte man nicht die
gleiche Argumentation, mit der die Glaubwürdigkeit der
Neuoffenbarung in Frage gestellt wurde, auch gegen die
Bibel verwenden? Ist die Bibel nicht auch das Wort
Gottes? Erhebt sie nicht auch den Anspruch, unfehlbar zu
sein? Und finden sich in ihr nicht auch massenhaft
wissenschaftliche Fehler, ethische Missgriffe und
Widersprüche? Woher kommt unsere Sichtweise auf die
Bibel und ist sie inhaltlich überhaupt gerechtfertigt?
Martin Luther - neben berechtigter Kirchenkritik hinterließ er auch sehr zweifelhaft Thesen.
| "Sola scriptura" - "allein
die Bibel" - war einst ein
mächtiges Schwert (Eph
6,17) gegen eine übermächtige
korrupte Kirchenführung,
die Aussagen aus
der Bibel nach Belieben
entstellte. Luther war nicht
der Erste, der statt dem
Sodom, zu dem der
Vatikan verkommen war,
wieder Christus selbst und
seine "Frohe Botschaft" in den Mittelpunkt der Christenheit stellen wollte. Doch er
war einer der Wenigen, die lange genug lebten, um etwas
zu verändern. |
Luther hatte in den Fürsten seiner Zeit
mächtige Verbündete, die mit seiner Hilfe dem Kaiser
"von Gottes Gnaden" (eigentlich von des Papstes
Gnaden) religiös etwas entgegensetzen konnten.
Die Bibel wurde so auch zur politischen Waffe. Dass die
"Frohe Botschaft" dabei oft in den Hintergrund trat,
deckte unter anderem die brutale Niederschlagung der
Bauernaufstände auf. Nicht die Befreiung zur
persönlichen Beziehung zu Gott stand im Mittelpunkt,
sondern die Ablösung des Papstes durch die (Glaubens-)
Hoheit der Fürsten. Das Joch blieb, nur die Peiniger
wechselten. Dabei bezog Luther das "sola scriptura"
ursprünglich auf die Auslegung der Bibel. Trotzdem wird
heute unter Berufung auf Luthers "sola scriptura" und als
Abgrenzung zu einer skeptischen Bibelexegese die Bibel
von manchen zur Gottheit verklärt:
»Alle Schrift ist von Gott eingegeben«
(2. Brief von Paulus an Timotheus,
Kapitel 3, Vers 16)
und
»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei
Gott, und das Wort war Gott.«
(Johannesevangelium, Kapitel 1, Vers 1)
Versteht man diese Bibelstellen so, dass Gott die Bibel
diktiert hat und sie quasi der "papiergewordene" Jesus
ist, so besteht tatsächlich kein Unterschied mehr zum
Selbstverständnis der Neuoffenbarung. Im Gesamtkontext
der Bibel ist diese Interpretation aber nicht
plausibel. So beginnt beispielsweise der Schreiber des
Lukasevangeliums:
»Da es nun schon viele unternommen haben,
einen Bericht von den Ereignissen zu verfassen,
die sich unter uns zugetragen haben, wie sie uns
die überliefert haben, die von Anfang an
Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen
sind, hat es auch mir gut geschienen, der ich
allem von Anfang an genau gefolgt bin, es dir,
hochedler Theophilus, der Reihe nach zu
schreiben, damit du die Zuverlässigkeit der Dinge
erkennst, in denen du unterrichtet worden bist.«
(Lukasevangelium, Kapitel 1, Verse 1-4)
Kein Wort von einer Stimme, die ihm diktiert, keine
Einflüsterung, sondern schlicht Augenzeugenberichte
von Zeitzeugen sind demnach die Grundlage dieses
Textes. Der Evangelist recherchiert, sammelt, sichtet und
ordnet. Und so bleibt auch der Text zunächst einmal
profan: Lukas als Geschichts- und Paulus als
Briefschreiber. An die Gemeinde in Korinth schreibt
Paulus:
»Den übrigen aber sage ich, nicht der Herr: (...)«
(1. Brief von Paulus an die Gemeinde in Korinth,
Kapitel 7, Vers 12)
– deutlicher kann Paulus nicht hervorheben, dass er hier
seine eigene Meinung schreibt. "Alle Schrift ist von Gott
eingegeben" meint also nur, dass sie in der Begegnung
mit Gott ihren Ursprung hat, und mit dem "logos", dem
"Wort", ist nicht die Bibel gemeint, sondern Jesus, der in
seiner Person die Offenbarung Gottes ist.
Gott offenbarte sich nicht durch eine Lehre, eine
Philosophie oder ein Buch, sondern durch Jesus, einem
Menschen aus Fleisch und Blut. Auch hier ist die Bibel
bodenständig und erdverbunden. Und genau in dieser
Erdverbundenheit und Menschlichkeit liegt ihre Stärke.
Sie ist kein wissenschaftliches Buch, kein göttliches
Diktat, sondern schlicht Zeitzeuge der Heilsgeschichte.
Wir finden in der Bibel die Berichte von Menschen, die
etwas mit Gott erlebten und wir finden diese Berichte
nicht anders, als sie die Menschen damals eben schreiben
konnten.
»Damals redete Josua zum HERRN, an dem Tag,
als der HERR die Amoriter vor den Söhnen Israel
dahingab, und sagte vor den Augen Israels:
Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond, im Tal
Ajalon! Da stand die Sonne still, und der Mond
blieb stehen, bis das Volk sich an seinen Feinden
gerächt hatte. Ist das nicht geschrieben im Buch
Jaschar? Die Sonne blieb stehen mitten am
Himmel und beeilte sich nicht unterzugehen,
ungefähr einen ganzen Tag lang.«
(Josua, Kapitel 10, Verse 12f)
Angenommen, der Schreiber des Buches Josua berichtet
einfach was er sieht, so lesen wir, dass die Sonne still
stand. Vielleicht würde heute jemand schreiben, dass die
Erde aufhörte sich zu drehen. Oder in hundert Jahren,
dass die Schlacht in einer Zeitblase stattfand. Vielleicht
hatten sie auch einfach das Gefühl, dass die Zeit still
stand und ihnen kam der Kampf viel länger vor, als er
"tatsächlich" (was immer das sein soll) dauerte. Aber
ändert das etwas an dem, was Gottes Volk erlebt hat?
Man kann daran zweifeln, ob und was sich damals
wirklich ereignet hat. Der Text hält diese Zweifel von
Menschen aus. Die Geschichte Gottes mit den Menschen
stützt sich aus gutem Grund nicht nur auf einen Zeugen
aus einer Epoche sondern überspannt Jahrtausende.
Gott arbeitet von Beginn an mit Menschen zusammen
und für ihn sind Menschen nicht nur Statisten. Gott
vertraute den Menschen seine Schöpfung an, seine
Botschaft und sogar seinen Sohn, obwohl klar war, dass
die Menschen ihn umbringen. Man mag es als Schwäche
Gottes sehen, dass Gott uns immer mit einbezieht,
andererseits spricht es für Gott, dass er trotzdem zum
Ziel kommt. Jeder Christ ist Teil von Gottes Wort. Jeder
Christ ist Stellvertreter Christi auf Erden. Trotz aller
Schwäche des Einzelnen. Denn dort, wo Menschen, die
Gott vertrauen, schwach sind, ist Gott umso stärker.
»Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner
Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den
Schwachen mächtig. Darum will ich mich am
allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit
die Kraft Christi bei mir wohne.«
(2. Brief des Paulus an die Korinther, Kapitel 12,
Vers 9)
Es ist nur konsequent, dass die Bibel von Menschen
geschrieben wurde. Es ist nur konsequent, wenn wir auch
in der Bibel die Schwachheit dieser Menschen erkennen.
Aber es ist vor allem ein Zeichen für die Größe Gottes,
dass uns gerade diese berichteten Erlebnisse, wie kein
anderes Zeugnis, Gott in seiner ganzen Herrlichkeit
zeigen und dass wir hier letztlich Wahrheit finden. Viele
Missverständnisse entstehen, weil oft weder die Zeit,
noch der Autor, noch dessen Absicht, noch die Situation
und der Rahmen des Textes berücksichtigt werden.
Andere reduzieren die biblischen Texte auf das, was sie
sich persönlich vorstellen können. Doch wenn man die
Bibel wirklich ernst nimmt, kann man immer wieder
erleben: Hier redet Gott selbst mit mir. Die Stärke der
Bibel liegt also nicht nur in ihrem Inhalt, sondern auch in
ihrer Entstehungsgeschichte. Sie stützt sich nicht auf
einen Zeugen, sondern auf viele, deren Schilderungen aus
verschiedenen Perspektiven ein umfassenderes Bild der
Heilsgeschichte zeichnen als die Sichtweise nur eines
Einzelnen.
In der Bibel kommen über 40 Autoren aus allen
gesellschaftlichen Schichten zu Wort. Diese Autoren
decken einen Zeitrahmen von fast eineinhalb
Jahrtausenden ab. Historische Ereignisse und Orte lassen
sich rekonstruieren und zu vielen Berichten gibt es
außerbiblische oder archäologische Quellen. Die
biblischen Berichte können sich also auf die historischen
Fakten stützen, die den damals lebenden Autoren
unmittelbar zugänglich waren.
Die Neuoffenbarung stützt sich dagegen allein auf einen
österreichischen Dorfschullehrer und Musiker, der über
tausendachthundert Jahre nach den Ereignissen in Israel
in einer Umbruchphase seines Lebens auf einmal
Stimmen hört und sie für Gott hält.
Gerade die historische Verankerung durch Menschen, die
Ereignisse, Erfahrungen und Glaubensüberzeugungen
niederschrieben, macht also eine wesentliche Stärke der
Bibel aus. Wie ein roter Faden zieht sich trotz aller
menschlichen Verfehlungen und Irrtümer, trotz all der
Verschiedenheiten der Schreiber, der Zeiten und
Situationen die Geschichte eines Gottes durch die Bibel,
der den Kontakt zu seinen Menschen sucht und
schließlich selbst Mensch wird um uns zu retten.
Die Bibel ist dabei nicht Gott – und schon gar nicht der
wiedergekommene Christus, wie es die Neuoffenbarung
für sich beansprucht. Sie zeigt uns Gott.
Sie ist kein Dogma. Sie ist eine Herausforderung. Mit all
ihren Ecken und Kanten lädt sie uns mit unseren Ecken
und Kanten ein zu einem Leben mit Gott. Dieses
Versprechen ist nicht vergleichbar mit dem der
Neuoffenbarung. Aber es kann dafür eingehalten werden.
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